Eine junge Frau, die mit ihrem bürgerlichen Leben unzufrieden ist, besucht eines Abends eine Bar, wo sie von einem Marineoffizier umworben wird. Sie beginnt von einem anderen Leben zu träumen, doch als der Seemann bemerkt, dass sie verheiratet und Mutter ist, wendet er sich von ihr ab. Die junge Frau muss erkennen, dass ihr Bild eines anderen, abenteuerlicheren Lebens nur eine Reverie war, und sie kehrt in die Realität ihres normalen Lebens zurück.
Im Jahr 1927 verwandelte die französische Avantgarde-Regisseurin Germaine Dulac ein Gedicht Charles Baudelaires in ein experimentelles, poetisches Filmwerk, das ganz ohne Zwischentitel auskommt. Dulac, die nicht nur als eine der bedeutendsten Filmemacherinnen der französischen Filmgeschichte, sondern auch als einflussreiche Filmtheoretikerin und Feministin gilt, verfolgte in vielen ihrer Filme und theoretischen Schriften das Ziel einer reinen Filmsprache, eines »cinéma pure« – frei von narrativen Formen und Einflüssen aus Literatur und Theater. L’INVITATION AUVOYAGE entstand ein Jahr vor Dulacs wohl bekanntestem Film LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN (DIE MUSCHEL UND DER KLERIKER, 1928), der häufig als erster surrealistischer Film und als eines der wichtigsten Schlüsselwerke der Filmavantgarde bezeichnet wird. Wir zeigen eine 35mm-Filmkopie des EYE Filmmuseums. Die Restaurierung wurde 1998 auf Grundlage des Originalnegativs aus der Sammlung der Cinémathèque française durchgeführt.
[...] Dulacs langsamer, verträumter Rhythmus vermeidet jeden Höhepunkt und vor allen Dingen auch: sie vermeidet psychologisch alles, was außerhalb dieser Suggestion von Stimmungen liegt. Eine regelrecht gegensätzliche Arbeitsweise zu der visuellen Anatomie der Fakten, die wir bei Autant-Lara finden. Wirklichkeit des Augenblicks und Wirklichkeit des Lebens dahinter schieben sich aneinander vorbei; Träume, Fragmente von Reisen, Sehnsüchte, Stimmungen treiben auf der neblig suggestiven Musik der Kapelle in der Bar. [...] L'INVITATION AU VOYAGE ist, ohne bildlich sehr authentisch oder tiefgründig zu sein – wir akzeptieren die Gesichter der Personen, aber nur wegen des Traums, den der Film um sie herum webt –, der Versuch einer sehr subjektiven „Orchestrierung“ eines dramatischen Themas. Es formt sich ein vollständiger Eindruck von der subtilen, aber anhaltenden Stimmung, die sie visuell-psychologisch wiedergeben will: worin jede schwebende und abenteuerhafte Sekunde noch während sie erlebt wird schon Erinnerung zu sein scheint und die Umgebung ein Traum. Daß man sich an einen Film von Germaine Dulac in Worten erinnert, die Empfindungen wiedergeben, ist charakteristisch für ihr Werk. Auf die gleiche Art und Weise verliert sie sich in „Bildsprache“ und auffallend ist dann die fließende Linie ihrer Arabesken. Ein Geiger spielt und seine Empfindungen, wie die seiner Hörer ziehen in Bildern vorbei: weit „wie die See“, einsam „wie die Möwen“, strahlend „wie die Blumen“. Ein dauerndes Hineinwiegen eines anderen Angesichts in die Aufnahme des Geigers mit seiner Violine.
Elisabeth de Roos: Fransche Filmkunst. Rotterdam: Brusse's Uitgeversmaatschappij 1931. Aus dem Niederländischen von Esther Kuhn
Dulacs L'INVITATION AUVOYAGE nimmt ein paar Zeilen des gleichnamigen Gedichts von Baudelaire zum Anlaß: „Mon enfant, ma soeur, songe à la douceur d’aller, là-bas, vivre ensemble.“ Der Film ist keine Illustration des Gedichts, sondern ein Versuch, die darin evozierte Stimmung ins Kino zu übersetzen – ein gewagtes Unterfangen. Die Handlung dient nur als Vorwand zur Erschaffung von Atmosphäre und zur Schilderung emotionaler Zustände. Zentrales Motiv ist die Flucht, die Sehnsucht nach einem anderen Ort. Dieser Wunsch ist der Subtext, der die minimale Erzählung von Dulac strukturiert: Eine verheiratete Frau bricht aus ihrem unerfüllten Ehealltag aus und sucht ein Abenteuer in einer Bar, wo sie einen jungen Schiffskapitän trifft.
L'INVITATION AU VOYAGE spielt mit einer der wesentlichsten Möglichkeiten des Kinos, die im Montagefilm der 20er Jahre auf vielfältigste Art und Weise ausprobiert wird, indem es Bezüge schafft von ganz nah zu ganz fern und damit die Dynamik der Moderne aufgreift, widerspiegelt und kontrastiert. Das Spannungsfeld zwischen Fortschrittseuphorie und Nostalgie des 19. Jahrhunderts bildet den Hintergrund von Dulacs Werk, das sich kritisch mit der Rolle des Kinos als Ort der Kompensation in einer zunehmend entzauberten Welt auseinandersetzt. Ihr Film will alles andere als eine geschlossene Welt, eine illusorische Realität im Sinne Hollywoods nachahmen. L'INVITATION AU VOYAGE konstruiert und dekonstruiert im gleichen Zug das Kino als Ort der Glücksverheißung.
Catherine Silberschmidt: Zwischen Sehnsucht und Begehren. Zur Blickstruktur in L'INVITATION AU VOYAGE von Germaine Dulac. In: Sabine Nessel, Heide Schlüpmann, Stefanie Schulte Strathaus (Red.): Germaine Dulac [= Kinemathek, Nr. 93], Oktober 2002.