Der Debütfilm des spanischen Regisseurs Luis Buñuel, den er in Zusammenarbeit mit dem Künstler Salvador Dalí realisierte, wird als der große Klassiker des surrealistischen Films gefeiert. Auf die ikonische Anfangssequenz eines Auges, das mit einer Rasierklinge zerschnitten wird, folgen weitere nachhaltig prägende Bilder, die ein loses Narrativ über einen ständig scheiternden Annäherungsversuch ergeben, jedoch gleichzeitig zusammenhangslos bleiben und viel Interpretationsraum bieten. Die aktuellste Restaurierung entstand 2021 durch die Cinémathèque française in Zusammenarbeit mit der Filmoteca Española.
The acclaimed debut film by Spanish director Luis Buñuel, made in collaboration with the artist Salvador Dalí, is considered the great classic of surrealist film. The iconic opening sequence of an eye that is sliced with a razor blade is followed by other unforgettable images that together form a loose narrative about a young man’s constantly failing attempt to seduce a young woman. At the same time, these images somehow remain disconnected and offer ample room for interpretation. The most recent restoration was carried out in 2021 by the Cinémathèque française in collaboration with the Filmoteca Española.
Da gibt es durcheinander kopierte Träume, psychoanalytische Bildverzerrungen, unerwartete Perspektiv-Verknüpfungen, die eine ganz neue Welt erschließen. Schon berühmt ist jenes Angstbild des über die ganze Leinwand sich vergrößernden Auges, das schließlich von einem Rasiermesser durchschnitten wird. Berühmt auch jene Massenszene („danseuse etoile“), so zusammengesetzt, daß die einzelnen durcheinander kopierten Figuren je nach ihrer wechselnden Bedeutung unabhängig voneinander bald riesengroß, bald kleinwinzig werden. Man denke sich die Freudsche Lehre von den Rösselsprüngen des Unterbewußtseins statt einseitig aus dem Gesichtswinkel (oder vielmehr Begriffswinkel) der Wertverknüpfung einmal als reine Abfolge von Bildern, also nicht mit dem reflektierenden Verstand, sondern unmittelbar mit dem Auge gesehen.
Walther Tritsch, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 28.12.1929
Buñuels Film UN CHIEN ANDALOU war anti-ästhetisch und anti-artistisch. Seine Stärke lag nicht in den Bildkompositionen, Montagen und Rhythmen, sondern einzig in seinem emotionalen Gehalt.
So wie POTEMKIN und die russische Avantgarde die äußeren Bedingungen der menschlichen Existenz attackiert hatten, so sezierte Buñuel die Eingeweide der bürgerlichen Gesellschaft, er zeigte die verzerrten Impulse des Menschen, seine unterdrückten Triebe und unstillbaren Begierden.
Vom Gesichtspunkt der Logik und der Tradition her betrachtet ist die „Handlung“ nur schwer faßbar. Doch wenn man empfänglich ist für diesen unaufhörlichen Strom von Gefühlen, wie er von den Bildern vermittelt wird, folgt man der Entwicklung einer Liebesbeziehung, oder vielmehr deren Verhinderung durch verzehrende und zersetzende Kräfte.
Peter Weiss: Avantgarde Film (1956). Aus dem Schwedischen übersetzt von Beat Mazenauer. Frankfurt/Main 1995
The male protagonist of UN CHIEN ANDALOU fits perfectly the sexually repressed, guilt-ridden Buñuel who emerges from his autobiography, as well as from his wife’s memoirs. […] His deep-seated fear of women is expressed very clearly in the film’s female protagonist. […] Buñuel and Dalí […] were highly conscious of and disturbed by the fact that female tranquillity could well conceal powerful and aggressive sexual appetites, and in UN CHIEN ANDALOU this is precisely the kind of woman the protagonist proves to be. […] She is indeed the sexually aggressive woman Buñuel feared, an echo of no doubt of the various women who had displayed amorous intentions towards him and from whom he so often succeeded in escaping. […] When she is finally killed by a passing car, her death can be seen in a variety of ways, one of which could well be linked to Buñuel’s desire, as the all-powerfull film-maker, to put an end to the kind of woman he was afraid of.
Gwynne Edwards: A Companion to Luis Buñuel. Woodbridge 2005